Distanzreiter Nordwest

Rittbericht: Diesse

Distanzritte sind gar nicht weit verbreitet in der Welschschweiz. Um den dortigen Reitern diese Sparte des Pferdesportes etwas näher zu bringen, organisierte der Club Hippique de Diesse einen Distanzritt am Chasseral. EVGs über 20 km (als Trainingsritt), 30 km, 50 km, und 70 km und ein CES waren ausgeschrieben. Der Letztere wurde wegen nur dreier Meldungen abgesagt. Also wurden am Samstag 20 und 30, und am Sonntag 50 und 70 km EVG geritten.

Schon die Karte, die mit den Startlisten mitgeliefert wurde, machte es klar: das würde eine harte Sache werden, war doch auf der 30 km-Schlaufe eine Gesamthöhendifferenz von 620 Metern zu überwinden. Auf der 20-km-Schlaufe waren das dann immer noch beachtliche 358 m. Ich hatte mich für den EVG 70 km angemeldet, was eine gesamte Höhendifferenz von zirka 1330 m ergeben würde, verteilt über die drei Schlaufen. Wenn auch die auf der stark verkleinerten Karte etwas diffusen Streckenlinien nicht ganz klar waren, so konnten doch die Höhenlinien nicht lügen: sie waren oft so nahe zusammen, dass sie einander fast zu berühren schienen.

Dieser Distanzritt wurde denn auch mehr oder wenig einzigartig durch verschiedene Faktoren, und ich denke, es lohnt sich, diesen Ritt etwas mehr im Detail zu beschreiben.

In den grossen Vergnügungsparks der USA kann man bei den verrücktesten und wildesten Achterbahnen ulkige T-Shirts kaufen, welche zum Beispiel besagen „I survived The Demon“. Ihr merkt vielleicht, worauf ich hinaus will: I survived the Endurance à Chasseral“, oder etwas weniger dramtisch „I completed the Endurance à Chasseral“.

Ein guter Kollege von mir, der am Samstag EVG 30 km ritt, fasste das so zusammen: „Das war mein bisher landschaftlich mit Abstand schönster, topographisch schwierigster und meteorologisch härtester Distanzritt.“ Zum Letzteren fügte er an: „Das Schlimmste waren die Wetterbedingungen. Es regnete unablässlich, aber schlimmer: es stürmte wie wild. Und irgendwie kam der Sturm immer von vorne. Man ritt gegen eine Wand aus Wind. Zudem war es kalt (unter 10 Grad), zusammen mit dem Regen und dem Wind eine richtige „Nullnummer“. Meine Hände sind fast erfroren. Und zu allem war auf dem Hochplateau des Mont Sujet ein Nebel, dass man kaum 20 Meter weit sah.“ Fazit des Tages: „Der DR mit der mir bisher bekannten höchsten Ausfallquote: im EVG 20 km sind 21 gestartet und nur 10 durchgekommen! Im EVG 30 km sind 28 losgeritten und nur 15 durchgekommen! Der Rest wurde eliminiert, vor allem wegen der Zeit, d.h. unter 10 km/h.“ Tja …

Ich komme am Sonntag Morgen gegen sechs Uhr in Diesse an – ohne meine Freundin Sue, die diesmals als Groom dabei sein sollte; aber sie scheint sich verschlafen zu haben, und beantwortet kein Telefon. Dunkle Wolken bedecken den Himmel (als es dann hell genug ist, das zu sehen), und es ist unerfreulich kalt für Mitte Mai in unseren Breitengraden.

Als ich gerade mit Johnny zur Eingangsprüfung beim Veterinär gehe, kommt Sue doch noch an, sie hat ihren Mann überredet, sie herzufahren.

Um halb acht geht es dann los. Mit der Startnummer 1 sind Johnny und ich die ersten auf der Strecke. Ich weiss von der Karte und dem Bericht meines Kollegen her, dass man nur auf den ersten 10 km oder so wirklich Tempo machen kann. Ich will zwar nicht losdonnern am Anfang, das wäre ja denkbar schlechte Endurance Startegie, aber ich reite schon ein bisschen forsch drauflos, zumal Johnny sehr fit ist und wirklich vorwärts gehen will. Mein Ziel für heute ist klar: ich will wenn möglich diese Prüfung in der Wertung beenden, aber am unteren, langsameren Zeitlimit.

Wir kommen gut voran, vorbei an Höfen, dann auf eine grosse Weide, auf der eben die Rinder herausgelassen werden, und dann hinter uns her galoppieren, mit wildem Glocken-Gebimmel. Das alarmiert Johnny schon ein wenig. Ausgangs Weide kommt kein reguläres Gatter, sondern eine dieser Elektroschranken mit zwei Schwenk-Armen, die man einfach aufstossen kann. Bevor ich mich’s allerdings versehe, ist Johnny ohne Umtriebe darüber hinausgesprungen. Nun gut, das spart Zeit. Wir reiten weiter entlang der Felder, und plötzlich versperren ein Traktor und ein kaum sichtbarer Draht den Weg – und weiter vorne kommt uns dann eine ganze Kuhherde auf dem engen Weg entgegen. Johnny bahnt ich unbeirrt einen Weg durch sie durch – und bereits haben wir Nods erreicht – und somit die ersten 10 km hinter uns gebracht, nach 40 Minuten.

Der Wind bläst gewaltig, das ist ein richtiger Sturm, und es regnet sanft. Dadurch sind die Graswege recht rutschig. Das heult und tost um einen herum. Das erinnert mich an einen Film, den ich mal gesehen habe: „Der perfekte Sturm“ oder so was, da tobten die Elemente auch so, einfach minus die haushohen Wellen. Oder all die Filme, in denen sie in der Mutter aller Unwetter irgendwo an einer Felswand hängen und nicht weiterkommen.

Jetzt wird es interessant: es beginnt zu steigen, und es geht buchstäblich über Stock und Stein, und durch tiefen Sumpf. Ich kontrolliere regelmässig, ob ich eventuell in dem tiefen, klebrigen Morast einer meiner Swiss Horse Boots verlustig gegangen sein könnte – aber nicht so: die halten! Nach einer kurzen ebenen Strecke ist es dann soweit: nun geht es die Flanke des Chasseral Zuges hoch, stetig bergauf. Ich teste Johnny’s Hals und seine Atmung, sehe, ob er eventuell kurz Schritt gehen möchte. Nein, er will weitertraben. Sehr gut. Wir kommen höher und höher, dann verengt sich plötzlich der Weg in einen fussbreiten Trampelpfad, der direkt den Berghang hochführt. Nun kommt endgültig nur noch Schritt in Frage, alles andere wäre in meinen Augen Wahnsinn, ist es doch auch tief und glitschig. Die nächsten 500 Meter oder so führen uns fast 120 Meter in die Höhe! Ich kann Johnny’s Atem jetzt gut hören. Ist das anstrengend! Ich frage mich bange, ob mein Sechsjähriger diese Kraxelpartie überhaupt drei Mal schaffen kann! Bin ich froh, als wir wieder seitwärts reiten können. Nach ein paar engen und steilen Windungen kommen wir auf die Bison-Ranch, wo auf einer grossen Weide Büffel mit ihren Kälbern ruhen – echt niedlich die Kleinen.

Nun geht es auf der Höhe den Grat entlang, noch einmal sanft weiter hinauf, bis zu der Farm, wo es dann ins Hochtal hinuntergeht, dann allerdings wieder rauf, auf den Mont Sujet. Ich stöhne, mein armer Johnny, aber er will immer noch unverdrossen traben, auch aufwärts. Nun erreichen wir die Hochweiden des Mont Sujet, reiten unter zwei Skiliften durch und haben den höchsten Punkt des Rittes erreicht. Man hat hier einen grossartigen Ausblick auf das Seeland hinunter; am Horizont noch leicht schemenhaft in den Wolken die Alpen.

Der Weg die Weide entlang und dann sanft hinunter ist rutschig wegen des nassen Grases. Johnny tut sein Bestes, um auf den Beinen und sogar im Trab zu bleiben. Ich zeige ihm den Weg und lasse ihn am langen Zügel machen. Manchmal geht er ein paar Tritte in den Schritt um über ein paar Steine zu klettern, dann trabt er sofort wieder an, und auch als es beginnt, steiler hinunter zu führen, will er traben. Ich nehme ihn zurück in einen völlig relaxten Jog, und sehe zu, wie wir hier einigermassen vernünftig weiterkommen. Endlos scheint es nach unten zu führen: halt von 1314 wieder auf 838 Meter runter.

Die letzten fünf Kilometer scheinen sich irgendwie gedehnt zu haben – er nimmt kein Ende, dieser Abstieg. Plötzlich kracht es infernalisch im Wald: es ballert, als sein ein Krieg ausgebrochen: ah, ein Schiesstand, und Johnny zuckt bei jedem Schuss zusammen. Wir kommen seitlich gegen den Stand, da kommen wir in den vollen „Genuss“ der Knallerei – hier bloss nicht verweilen. Jetzt sind wir aber fast zurück, und ich pariere in den Schritt, muss Johnny immer wieder ermahnen, jetzt im Schritt zu bleiben.

Johnny atmet ganz normal und ist so gut wie trocken. Wir reiten über die Ziellinie – das erste Mal – und ich springe sofort ab und löse den Gurt. Zweieinhalb Stunden sind vergangen. Das sieht gut aus, ich darf ja ein Total von 7 Stunden haben, inklusive Wartezweit natürlich.

Beim Auto angekommen, sattle ich ab und überprüfe Johnny’s Puls – gut, dass das Stethoskop hinten im Anhänger ist, denn mein Groom ist momentan mitsamt meinem Autoschlüssel verschwunden. Gut, Puls bereits unter 60, also können wir direkt zum Veterinär.

Dann 40 Minuten wohlverdiente Pause. Johnny frisst ein wenig Futter mit nassen Zuckerrübenschnitzeln, einen Apfel, etwas Gras, und scheint putzmunter. Ich bin beeindruckt von ihm, und recht zuversichtlich für die nächsten 20 km. Ich denke, die wird er bestimmt schaffen.

Vor dem Start lasse ich ihn noch von dem saftigen Gras dort fressen, und rege bei meinem in der Zwischenzeit wieder erschienenen „Groom“ an, sie möge doch etwas Gras pflücken für Johnny für die nächste Pause.

Und dann sind wir wieder unterwegs. Es hat in der Zwischenzeit aufgehört zu regnen, und man sieht sogar mal einen Streifen blauen Himmels. Der heftige Wind hat das Gras obenauf abgetrocknet, und wir kommen gut voran. Diesmal galoppiere ich einen guten Teil dieser ersten 10 km., schön ruhig und locker und regelmässig, und das ist ganz in Johnny’s Sinne.

Dann beginnt die Steigung wieder – und das gefürchtete „pièce de resistance“ scheint mir diesmal noch schlimmer – was wohl auch zutrifft, nachdem all die anderen Pferden in der Zwischenzeit hier ebenfalls durchgekommen sind und alles noch mehr aufgewühlt haben.

Was bin ich froh, als wir das zweite Mal die Bison-Ranch – und damit genau 15 km der Schlaufe – erreicht haben. Ich kühle Johnny am Brunnen, und er beginnt zu trinken. Super!

Und weiter geht es. Wir müssen die Zufahrtsstrasse zur Bison-Ranch verlassen, denn da kommt uns eine Motorkade von etwa 30 Oldtimern entgegen (die Autos, nicht die Fahrer). Wo wir das letzte Mal geradeaus geritten sind, zweigen wir nun nach rechts runter ab und rutschen und schlittern den Hang hinunter. Dann kommen wir an den Waldrand und auf leicht trockeneren Boden, direkt auf ein Stück Waldboden, das wie eine gigantische Rutsche aussieht. Ich schlage Johnny vor, dass er hier vielleicht Schritt gehen könnte, aber nein, er krabbelt unbeirrt weiter und es scheint fast so, als würden wir tatsächlich runterrutschen. Er ist so unwahrscheinlich trittsicher und flink auf den Beinen, dass es eine Freude ist. Immer schneller schlittern wir runter, das erinnert mich an die berühmte Szene aus dem Film „The Man from Snowy River“. (Für Nicht-Eingeweihte: in der Szene galoppiert der Reiter voll Rohr einen ungemein steilen Hang hinunter – man würde das einen Abrutsch nennen. Wir haben früher immer wieder lange diskutiert, ob das nun eine echte Szene sei oder irgend ein Trick – ich weiss es nicht, aber es sieht auf jeden fall sehr eindrücklich aus).

Anyway, schliesslich sind wir wieder auf einem Weg. Auf dieser Schlaufe reitet es sich viel besser wieder hinunter, da zwischendurch immer wieder fast ebene Abschnitte auf vernünftigen Wegen kommen. Wir sind immer noch sehr gut unterwegs und Johnny denkt noch immer nicht ans Tempo drosseln. Nach 1 Stunde und 40 Minuten sind wir wieder im Ziel – mein Groom (ver)schläft im Auto. Auch diesmal ist Johnny’s Puls bereits unter 60 und wir gehen wieder direkt zum Veterinär.

In der nun folgenden Pause frisst sich Johnny durch noch mehr Futter und einen guten Teil des Grases, das Sue für ihn gerupft hat – dann ein Apfel, ein wenig Heu, und schon müssen wir wieder satteln, für die letzte Runde. Ich bin nun zuversichtlich, dass wir es schaffen können, denn ich kann es mir leisten, unterwegs längere Abschnitte im Schritt zu reiten, da ich auf die sieben Stunden noch 2 Std. und 40 Min. Zeit in Reserve hätte.

Wieder geht es los auf die flachen 10 km, und wir galoppieren ruhig dahin wie das letzte Mal. Johnny scheint den Weg jetzt auswendig zu kennen. In Nods am Brunnen kurz trinken, dann weiter. Johnny ist nicht mehr ganz so spritzig, aber er will weiter, und er will nicht langsamer werden. Ich habe schon das Gefühl, wir seien einiges langsamer unterwegs jetzt, aber das ist okay so. Auch aufwärts will Johnny fleissig weitertraben – und dann kommen wir zum dirtten Mal an den unsäglichen Aufstieg, das ist mental fast nicht zum aushalten! Ich habe schon vorher beschlossen, dieses Mal hier abzustiegen, denn ein drittes Mal will ich es Johnny nicht zumuten, dass er mich da hochhieven muss. Also dann mal los: Augen am Boden, um nicht in die schlimmsten Morastlöcher zu geraten. Bald keuche ich laut, und gegen oben pruste und schnaube ich wie eine asthmatische Dampfmaschine. Johnny schnappt von links und rechts nach kleinen Zweigen, quasi Mundraub als Zwischenverpflegung. Soll er doch, ist okay so.

Ich sehe ehrlich gesagt nicht ganz ein, wieso man eine solche Passage in einen Distanzritt einbaut, vor allem bei derart nassen und tiefen Bodenverhältnissen, wenn es doch einen „normalen“ Weg auf besagte Bison-Ranch gegeben hätte, auf dem man schlussendlich denselben Höhenunterschied bewältigt hätte, und der nur absolut unwesentlich kürzer gewesen wäre. Das wäre auf jeden Fall pferdefreundlicher gewesen.

Was bin ich froh, als wir nach rechts quer über diese Hochwiesen zur Ranch abbiegen können: ich steige wieder auf, denn jetzt geht es nur noch runter! Kurz halten und trinken auf der Ranch, dann los auf die letzten 5 Kilometer – endgültig die letzten! Johnny meistert den Weg genau so gut wie das letzte Mal, stetig und regelmässig vorwärts, dann kommt schon wieder der Schiess-Stand (wo sie zum Glück in der Zwischenzeit zu schiessen aufgehört haben und jetzt hinter der Hütte grillieren). Nun reiten wir Schritt bis ins Ziel! Da habe ich doch gedacht, ich sei jetzt einiges langsamer unterwegs gewesen auf den letzten 20 km, aber ich bin auf dieser letzten Runde tatsächlich nur knapp vier Minuten langsamer als das letzte Mal. Und dann: ZIEL! Geschafft!!!

… Mein Groom schläft wieder im Auto. Abschliessende Vet-Visite – alles gut! Johnny’s Puls ist auf 46, sein Atem auf 12, alles andere okay! Hurra! Nun kühlen, Beine abspritzen, Gras fressen, Heu fressen, Gras fressen, führen, später sanft striegeln, Beine einreiben, Gras fressen …

Ich finde, dass Johnny sich ganz einfach grossartig gehalten hat, so unermüdlich und willig, ganz super – und wir haben unser Ziel erreicht: wir haben diese schweren 70 km in der Wertung beendet.

Jetzt räumen wir auf und warten auf die Siegerehrung, die für 17 Uhr angesagt ist. Und dann kommt der absolute Hammer des Tages: Johnny und ich haben gesiegt!

Von den ursprünglich gestarteten sieben Paaren sind vier in der Wertung geblieben, und von denen waren wir sowohl die Schnellsten (mit „nur“ 11.55 km/h), als auch die mit dem tiefsten Puls. Wir durften alle extrem grosszügige Preise entgegen nehmen!

Im EVG 50 km haben von 28 Gestarteten 17 Paare den Ritt in der Wertung beendet.

Nun noch die Fahrt nach Hause, und endlich hat Johnny Ruhe. Er wälzt sich, dann sucht er nach Futter, und ich bringe ihm sein wohlverdientes Heu!

Bericht: Esty H. Saenger